Einleitung
I.
Auf der Suche
nach Legende und Wirklichkeit der Pax Britannica in Indien taucht zuallererst
das Problem auf, daß es eine systematische Untersuchung zum Begriff der Pax
Britannica unter globalhistorischen Gesichtspunkten nicht gibt. Allenfalls wird
seine Manifestation im außenpolitischen Betrieb Großbritanniens seit 1815
–unter verschiedensten Blickwinkeln und mit einer Fülle von Publikationen–
mehr oder minder gründlich erfaßt. Der Begriff selbst wird dabei meist mit
einer Selbstverständlichkeit verwendet, als ob er gleichermaßen geklärt wäre
wie jener der Pax Romana. Durch kurz entschlossene Analogisierung wird des
letzteren epistemologisches Fundament –und oft durchaus mißverständliches
Konnotat– mitgeschleift, so daß auch der Begriff der Pax Britannica als längst
erforscht und definiert erschient – ein Nimbus, den er mit Chimären wie der
Pax Tatarica, Pax Americana oder neuerdings der Pax Democratica teilt.1
In dieser unkritischen, theoretisch nicht reflektierten Form ist Pax Britannica
gängige Münze auch in der historischen Zunft geworden und so wird der Begriff
auch in Deutschland von Koryphäen der modernen Englandhistoriografie verwendet.
Selbstverständlich kann hier eine theoretische Aufarbeitung des
begriffskritischen Defizits nicht geleistet werden, ebensowenig wäre es das
Thema der vorliegenden Arbeit. Allerdings muß dieses Problem zunächst schon
auch ausführlicher erörtert werden, genauso wie ein zweites:
In der Anwendung eines der britischen Außenpolitik des 19.Jahrhunderts
entstammenden Phänomens, nämlich einer ganz bestimmten britischen Form von
„Friedensordnung“ im Konzert der selbstredend weißen Konkurrenzstaaten, auf
Indien müssen sich die Probleme gleichsam strukturlogisch verdoppeln – und so
haben wir die unterschiedlichsten Bestimmungen des Beginns einer Pax Britannica
in Indien, die ihrem Gehalt nach paradoxerweise aus heutiger Sicht dort
teilweise schon vor ihrer Verkündigung etwa durch Castlereaghs Zirkulardepesche
an alle britischen Auslandsvertretungen 1816 gegeben schien2.
Solchen Ungereimtheiten ist nur zu entgehen, wenn Pax Britannica von
vornherein nicht als Umschreibung eines konkreten historischen Zustands
begriffen wird, sondern als ideologisches Konstrukt zum Zweck der Rechtfertigung
britischer Vorherrschaft in der Welt. Demnach endet der einleitende begriffsklärende
Abschnitt mit der Begründung eines ideologiekritischen Ansatzes inclusive der
entschiedenen Absicht, dennoch nicht in eine bloße Ideengeschichte
abzurutschen. Die Wirklichkeit kolonialer Penetration (oder sonst eines
historischen Vorgangs) spielte sich selbstverständlich auf der materiellen
Ebene ab. Das Bild davon aber wurde politisch-philosophisch, ideologisch,
imaginativ als Fiktion verhandelt. So wie „empire was a matter of attitudes,
legends, theories and institutions”3, so ist auch Pax Britannica
zunächst als Idee, als Legende anzusprechen. Sie hat gleichwohl, als
legitimatorischer Ausdruck eines realen Herrschaftsverhältnisses, eine klare
materielle Verknüpfung – und genau in diesem Zwischenbereich ist das Thema
angesiedelt.
Die Rückkopplung des Pax-Britannica-Ideologems an eine seiner
britisch-außenpolitischen Genese externen Materialbasis –nämlich der
historischen Realität kolonialer Penetration in Indien– bringt zuerst die
Notwendigkeit mit sich, die Grundlage, von der aus das Ideologem zum Zweck der
Herrschaftslegitimation abstrahiert wird, zu untersuchen. Daher muß sich der nächste
Schritt der vorgefundenen Tatsache des Mogulreichs im 17. und frühen
18.Jahrhundert stellen: als dem materialen Ausgangspunkt vor Ort, von dem aus
die ideologische Konstruktion der Pax Britannica in und für Indien inhaltlich
startet. Im Spiegel der historiografischen Entwicklung und ihrer konkreten
Resultate wird dabei die Wahrnehmung der präkolonialen Realität Indiens –ein
oft blutiges Chaos aus degenerierten Orientaldespoten, korrupten Beamten,
brutalen Grundherren und barbarischen Warlords– kenntlich als
herrschaftslegitimierende Bilderproduktion. Die kritische Frage schließt sich
an, ob ein Erkennen dieses Zusammenhangs heute bereits die Unmöglichkeit
weiterer Verwendung der Kategorie „Orientalische Despotie“ bedeutet oder bei
der Korrektur nur mancher Punkte innerhalb dieses Rahmens stehenbleibt. Am
Beispiel der nachfolgenden sog. „Kriegerstaaten“ wird gezeigt, daß
Totgesagte oftmals länger leben und manchmal auch in neuen, gestärkten
Kleidern wiederkehren.
Darüberhinaus liegen im Thema selbst bereits erste Einschränkungen: Da
wir es primär mit Herrschaftsgeschichte zu tun haben, bleibt der subalterne
Anteil4 zunächst ebenso außen vor wie im weiteren
„Indisch-Indien“5. Ein gewisser Schwerpunkt auf dem nördlichen
Indien und im zweiten Teil auf Bengalen ist v.a. dem Verlauf der kolonialen
Penetration (und dessen Erforschtheit) selbst geschuldet. „One
can assert with a fair degree of certainty”, heißt es bei A.T.Embree, „that
between the middle of the eighteenth century and up to the 1850s, the image of
India was largely drawn from Bengal society.”6
Die
Untersuchung fokussiert im weiteren Fortgang zunehmend den Zeitraum 1757/65 bis
1805/20. Im Groben läßt sich vorweg sagen,
daß in der `Ära des Orientalismus´ die vorentscheidenden Weichenstellungen
der indischen Transformationen vorgenommen wurden – und nicht erst mit den
Anglizisten im Oberwasser, etwa Bentinck und Macaulay seit den 1830er Jahren.7
Die Vorverlegung der `crucial period´ ins späte 18. und frühe 19.Jahrhundert
ist bei ansonsten unterschiedlichsten AutorInnen und unter sehr verschiedenen
Aspekten `state of the art´ in der Forschung.
II.
Nachdem auf
begriffskritischem und historiografischem Weg grundlegenden Voraussetzungen der
„Errichtung einer Pax Britannica in Indien“ die beanspruchte objektive Gültigkeit
schon bestritten wurde, soll ein Blick aus der britisch-indischen Perspektive
die weitere Entwicklung des kolonialen Penetrationsprozesses durch die East
India Company (EIC) bis zu deren Subordination unter die imperiale Staatsräson
Londons gegen Ende des 18.Jahrhunderts verfolgen. Das Gewicht der Betrachtungen
verlagert sich also vom Theoretischen ins Praktische, bleibt aber schwerpunktmäßig
zunächst am indischen Schauplatz der Geschichte. Entlang der realhistorischen
Sequenz „Finanzbedarf – territoriale Expansion – politisch-militärische
Konsolidation – Einnahmensicherung und neuerliche Expansion“ wird
hier die allmähliche Herausbildung einer immer komplexeren
Legitimationsproduktion in ihrer ideologischen Konstruiertheit, ihrer
tagespolitischen Abhängigkeit, ihrer verwickelten Dynamik und ihrer politischen
Öffentlichkeit demonstriert. Am Beispiel des Hastings-Impeachments 1788-95
unter dem Gesichtspunkt seiner Inszenierung als Schauspiel der politischen Moral
und öffentlicher Legitimation der EIC-Reformen läßt sich der imperiale
Take-Over Londons in der Indienpolitik dann auch auf ideologischem Gebiet
nachvollziehen.
Die nationale Rezeption des Krieges gegen Tipu Sultan ist praktischer
Ausdruck einer Umorientierungsphase imperialer Systematisierung, in deren
Verlauf auch die ideologische Legitimation –aus allerdings schon vorhandenen
Elementen– neu geordnet wurde. Wenngleich noch nicht dem Begriff und der endgültigen
Ausgestaltung nach, so erweist sich die Legende von der Pax Britannica doch
inhaltlich und funktionell als bereits in der 2.Hälfte des 18.Jahrhunderts
gereiftes Muster, in der privatnabobistisches „Asiatick Government“8
mit Burkes „Good Government“ und Cornwallis´ Reformen in einer imperialen
Staatsräson aufgehoben wurde. Als Herrschaftslegitimation grundsätzlich verknüpft
mit realhistorischen Prozessen, wird somit auch Michael Manns
Vorverlagerungs-These gestützt, wonach „die imperiale Expansion Englands auf
die Mitte des 18.Jahrhunderts gelegt werden“9 kann.
In der Arbeit weiter voranschreitend ins 19.Jahrhundert, werden ökonomische
und v.a. intellektuelle Aspekte stärker berücksichtigt; die Froschperspektive
der alten EIC (sowohl vor Ort als auch in England) wird zunehmend
imperialstrategisch ausgeweitet. Die geistige Aufrüstung in ihrer
widerstreitenden Vielfalt von etwa Haileybury bis Ft.William-College,
ideologische Offensiven in Parlament, Presse, Öffentlichkeit, Parteien und
freilich die territoriale Expansion der Wellesley-Ära werden zusammengedacht
– nicht mit dem Begriff des Freihandels-Imperialismus von Gallagher/Robinson,
sondern dem der Parasitären Symbiose von Rothermund10. Insgesamt
erscheint Pax Britannica in Indien so offensichtlich als koloniale Ausbeutungs-
und Herrschaftslegitimation, daß gefragt werden muß, wieso und wodurch das
Ideologem im Kontext binneneuropäischer Außenpolitik überhaupt derart breit
–und im Rückblick begriffsbildend– zur Anwendung kommen konnte. Es wird
sich zeigen, daß aus der indischen Pax-Britannica-Vorlage 2 Varianten
hervorgehen: eine für die politische Öffentlichkeit der weißen
Imperialkonkurrenz (und natürlich Großbritanniens selbst), die andere für den
kolonialen Beherrschungs-Komplex.
Letzterer bleibt auch weiterhin der
konzeptionelle Fluchtpunkt, wenn anhand des Systems der „Indirect Rule“, der
sog. `Mutiny´ und des Delhi-Durbar* von 1877 in einem Ausblick neuere
herrschaftstechnische, legitimationsideologische und repräsentationstheoretische
Aspekte der tatsächlichen Wirkungsweise von Pax Britannica im Indien des
19.Jahrhunderts erhellt werden.
III.
Die
nunmehr bereits 3 Enden des Themas –mogul-indische Ausgangsbasis, EIC in
Indien und London, britische Regierungspolitik– werden noch durch ein viertes
ergänzt, nämlich die Pax Britannica in Indien aus der Perspektive der
Untertanen. Gleichzeitig lassen sich dann von einer höheren historiografie- und
repräsentationskritischen Warte aus die vielleicht verwirrenden und auch in
sich gespaltenen Fäden zu einer Gesamtbewertung verknüpfen.
Ausgehend von Pax Britannica als konkretem Herrschaftsinstrument in
ideologischer Form erscheint das Ideologem jedenfalls als zu schwach
beschrieben, wenn man nur etwa eine flache Verbrämung der globalen Hegemonie
Großbritanniens benennen wollte. Vielmehr haben wir es mit einem wirkmächtigen
imperialistischen Kampfbegriff zu tun, der sich im Ausblick noch bis in die
Gegenwart des Jahres 2002 (gleichzeitig das zeitliche Limit der
Literaturauswertung dieser Arbeit) aktualisieren läßt. Es war nicht verschämte
Verbrämung, sondern unverschämt wesentliches Argument britischer Hegemonie,
die offenkundige Gewalt auf einer zustimmungsfähigen Basis begründen zu können
– und in der politischen Öffentlichkeit des Mutterlands selbst wurde sehr
hart um diesen legitimatorischen Kredit gerungen.
Einige sowohl grundsätzliche als auch verfahrenstechnische
Vorbemerkungen sind unerläßlich: In der Beschaffenheit des Themas liegt begründet,
daß englischsprachige Zitate, Wendungen und Fachwörter auch den laufenden Text
belasten oder bereichern können. Ich finde zudem nichts dabei,
ungekennzeichnete Anglizismen zu verwenden, wenn kein besonderer Hervorhebungs-
oder Erläuterungsbedarf besteht (im Fall feststehender Termini etwa); für
indische Begriffe gilt prinzipiell dasselbe, wobei auf das Umschrift-Problem
(z.B. kennt die Literatur je bis zu vier Schreibweisen für Mir
Kasim, den renegaten Nawab von
Bengalen, der 1764 bei Baxar geschlagen
wurde) nur kurz hingewiesen sei; wo nötig, werden klärende Anmerkungen direkt
in Fußnoten oder angehängt im kurzen Glossar* angeboten. In der Natur der
Fragestellung liegt desweiteren begründet, daß
–öfter als bei nicht ideologiekritischen Arbeiten– Begriffe zu
konkretisieren und Einwände zu kommentieren sind. Um den Fluß der
Argumentation nicht zu sehr zu strapazieren, werden diese Dinge tendenziell eher
in den Fußnoten abgehandelt; außerdem gerät jede Forschungsliteratur, die zur
Erzählung11 von der Pax Britannica beitrug und aktuell beiträgt,
auch selbst als Historiografie und als Quelle ins Visier, wodurch sich 2
Kategorien von Quellen ergäben: zeitgenössische Überreste wie etwa
J.Z.Holwells Bericht über das Black Hole
1757 zum einen und historiografische wie etwa R.Muirs Making
of British India 1915 oder noch J.Furbers John
Company at Work 1948 zum andern.12
In dem Maße wie klassische Sekundärliteratur somit zum Untersuchungsgegenstand
mutieren kann, muß der übrige Forschungsstand sozusagen als Tertiärliteratur
aufgefaßt werden. Die Erstnennung eines Titels ist im Fußnotenbereich jeweils
fett hervorgehoben.
Eine ganz grundlegende Schwierigkeit besteht schließlich darin, daß
–allen guten oder vorgeblichen Vorsätzen zum Trotze, eurozentrischen13
Betrachtungsweisen nicht länger anhängen zu wollen– Pax
Britannica in der allgemeinen und der akademischen Wahrnehmung überwiegend nicht als Bild,
sondern als Fakt aufgefaßt wird – und als solcher noch dazu ein
eurozentrisches Essential bildet. Ein
Ansatz, der Pax Britannica dagegen zuvörderst als herrschaftslegitimierendes
Ideologem anpackt, muß auf tiefverankerte Verständnisbarrieren treffen, benötigt
daher erhöhte darstellerische Sorgfalt und bleibt trotzdem ein schweres Stück
Lektüre. Andererseits erfordert gerade die angestrebte Auflösung des
eurozentrischen Horizonts in eine globale historische Perspektive konstitutiv
dessen kritische Revision als wenn auch `nur geistigen´, so doch organischen
Bestandteil europäischer Expansion und Dominanz in der Welt. Zwar kann der
Anspruch, die hergebrachte Geschichtsschreibung in eben diesem Sinne repräsentationskritisch
aufzubrechen und als Element eines Herrschaftsdiskurses anzugehen, heute kaum
ernsthaft abgewiesen werden14; ob er allerdings in der konkreten
geschichtswissenschaflichen Praxis tatsächlich auch umgesetzt wird, steht auf
einem anderen Blatt. Jedenfalls wird Pax Britannica in dieser Arbeit
entsprechend vom Kopf auf die Füße zu stellen versucht, obgleich mehr neue
Fragen als Antworten zu resultieren drohen.
Ein ideologiekritischer Ansatz am Problem der Pax Britannica bedeutet
freilich nicht gleich, sich vorwiegend politisch-ideengeschichtlich oder gar
literarisch-philosophisch zu verausgaben. Diese und die politisch-diplomatische
Ebene müssen mit der begriffs- und historiografiekritischen ebenso wie die
sozioökonomische, administrative und militärische Ebene kolonialer Penetration
Britisch-Indiens stets verknüpft gedacht und dargestellt werden. Die jeweiligen
Betrachtungs-Schwerpunkte mögen dabei wechseln, das zentrale Problem bleibt
jedoch immer ein ideologisches, nämlich die Pax Britannica als
herrschaftslegitimierendes Ideologem.
Unabhängig von der stofflichen Unterteilung des Themas sind auch jene
funktional verschiedenen Layer gedanklich auseinanderzuhalten, die das Bild von
der Pax Britannica komponieren: erstens ein Layer mit Assoziationen und
Konnotaten vom Alltags- bis hin zum Expertenverständnis; zweitens die
professionellen Versuche, britisch-indische Realgeschichte zwischen Chaos und
Pax im Detail zu beschreiben; drittens eine historiografie- und
ideologiekritische Interpretation dieser Interpretationen historischen
Materials; viertens natürlich ein Layer mit veranschaulichenden Beispielen wie
etwa dem Black Hole von Calcutta, dem Hastings-Impeachment oder dem
Delhi-Durbar; schließlich eine gesamtkontextuelle Perspektive, die das Bild in
seinen Bedeutungen und Relationen hinsichtlich der größeren Zusammenhänge
konturiert; und zuletzt der kontrastierende Hintergrund Indisch-Indiens im
gleichsam eigenen Recht.
Das sind erst ca. 6 % des Textes. Wer die gesamte Magisterarbeit incl. der Nachweise, Fußnoten, Literaturliste und Inhaltsübersicht erhalten möchte, folgt diesem Link: https://www.grin.com/document/54714 (dort befindet sich auch die ausführliche Inhaltsübersicht)